Kulissen des Großpolnischen Aufstandes

Der lange Weg zur Unabhängigkeit. Die Provinz Posen im XIX. Jahrhundert.

Przemysław Matusik

Im Jahr 1815, nach dem napoleonischen Gewittersturm, der für einige Jahre das drakonische Urteil der Teilungen Polens durchbrach, fand sich der größte Teil Großpolens mit Posen und Bromberg wieder im preußischen Herrschaftsgebiet ein. Kraft des Beschlusses des Königs Friedrich Wilhelm III. erhielt es diesmal den Status des Großherzogtums Posen, was gemäß den Bestimmungen des Wiener Kongresses der polnischen Bevölkerung einen bestimmten Umfang an Rechten garantieren sollte, die vor allem in der Gleichberechtigung der polnischen Sprache in der Verwaltung und im Schulwesen bestehen sollten. Während des ganzen XIX. Jh. sollten hier die Polen dominieren, die ca. zwei Drittel der Bevölkerung des Herzogtums bildeten; ihre zahlenmäßige Überlegenheit war vor allem auf dem Lande sichtbar, während in den Städten, insbesondere in größeren Städten, die wirtschaftlich starke deutsche und jüdische Bevölkerung dominierte. Während jedoch in den anderen durch Polen besiedelten Teilen Preußens, in Schlesien oder in Ermland und Masuren die polnische Gemeinschaft einen ausschließlich bäuerlichen Charakter hatte, so standen doch in Posen an ihrer Spitze die sich ihrer nationaler und politischer Ziele bewussten Eliten, zuerst der Adel und dann immer stärker die Intelligenz, die die Erinnerung an die frühere Rzeczpospolita lebendig hielten und die Idee eines unabhängigen Polens aufbewahrten. Die im Jahr 1815 durch die Preußen abgelegten Erklärungen, die polnische Nationalität zu achten, wurden daher mit Reserve aufgenommen; man blickte sich ständig nach Warschau um und hoffte auf einen Anschluss des Herzogtums an das Kongresspolen. Und als dann im Jahr 1830 der Novemberaufstand ausgebrochen ist, nahmen an ihm ca. 3 Tsd. Posener teil.

 

Das polnische Misstrauen in Anbetracht der preußischen Versprechungen war nicht unbegründet. Aus der Sicht von Berlin war das Großherzogtum Posen eine Provinz von großer militärischer und geopolitischer Bedeutung, weil es nämlich die südlichen und zentralen Teile der Monarchie der Hohenzollern mit den nordöstlichen Grenzgebieten: Pommern und Ostpreußen verband. Daher war Berlins Ziel, trotz der anfänglichen Erklärungen, sein vollkommener Anschluss an den preußischen Staat. Das kam besonders stark nach dem Novemberaufstand zu Vorschein, als man konsequent damit anfing, die Verwendung der polnischen Sprache im öffentlichen Leben und im Gymnasialunterricht einzuschränken, und amtliche Stellen nur durch Deutsche besetzt wurden. Gleichzeitig leitete die Obrigkeit eine Reihe von modernisierenden Maßnahmen ein, darunter die Intensivierung des im Jahr 1823 in Gang gesetzten Prozesses der Bauernbefreiung, Erschaffung der Volksschulen, Straßenbau, was die polnische Bevölkerung dazu anregen sollte, die höhere, deutsche Zivilisation anzunehmen. Das stellte eine neue Herausforderung für die polnischen Eliten dar, die die Erfahrung der Niederlage des Novemberaufstandes hinter sich hatten und sich zugleich der zunehmenden deutschen Gefahr und der Unabwendbarkeit der zivilisatorischen Veränderungen bewusst waren. In dieser Situation kamen andere Ideen auf: einer langfristigen, systematischen Arbeit am wirtschaftlichen, kulturellen und organisatorischen Aufstieg der polnischen Gesellschaft, was im Jahr 1848 in dem in der Posener Publizistik entstandenen Begriff der „organischen Arbeit“ zum Ausdruck kam. Die erste Institution, die man heute als eine der „organischen Arbeit gewidmete“ bezeichnen kann, war das durch die Gutsbesitzer im Jahr 1835 gegründete Kasyno Gostyńskie (Kasino von Gostyń). Doch die beständigsten Institutionen dieser Art entstanden auf die Anregung des Posener Arztes Karol Marcinkowski, eines wahren Anführers der polnischen Gemeinschaft in Posen zur damaligen Zeit. 1841 wurde nämlich in der Hauptstadt der Provinz das Hotel Bazar errichtet, in dem die polnischen Kaufleute und Handwerker ihre Geschäfte hatten, in den Sälen von Bazar fanden Treffen polnischer Organisationen statt, die manchmal Zuwendungen aus den Hotelgewinnen erhielten. Von riesiger Bedeutung war die Entstehung im Jahr 1841 eines wahren Fundaments der polnischen nationalen Aktivität – der Gesellschaft für Wissenschaftliche Hilfe (Towarzystwo Naukowej Pomocy) einer Stipendienorganisation, die Fonds für die Bildung der polnischen Jugend sammelte, ohne welche die Entstehung polnischer Intelligenz in Posen undenkbar wäre, die in der zweiten Hälfte des XIX. Jh. das Steuer der polnischen Angelegenheiten herumreißen sollte. Neben den ersten Institutionen, die im Sinne der organischen Arbeit tätig waren, entwickelte sich in den 40er Jahren eine demokratische Verschwörung der sog. Centralizacja Poznańska (das Libelt-Komitee), der breite Gutsbesitzer- und Intelligenzkreise angehörten, und deren Ziel die Auslösung des Aufstandes aller drei Teilungsgebiete war; diese größte Verschwörung der ersten Hälfte des XIX. Jh. wurde jedoch in Posen enttarnt, Hunderte von ihren Teilnehmern wurden im Gefängnis festgesetzt und die Großzahl der früher entstandenen Organisationen, solcher wie Kasino von Gostyń wurden aufgelöst, es blieb nur die Gesellschaft für Wissenschaftliche Hilfe erhalten. Die im Großen Prozess in Berlin verurteilten Verschwörer befreite der Völkerfrühling, dank welchem in Posen das polnische Nationalkomitee entstanden ist, welches nach einer umfassenden Autonomie für das Großherzogtum (sog. nationale Reorganisation) verlangte. In der revolutionären Atmosphäre willigte der König Friedrich Wilhelm IV. vorab nicht nur ein, sondern erlaubte auch, in Posen militärische Abteilungen zu formieren, die gemeinsam mit der preußischen Armee eine unerwartete russische Intervention abwehren sollten, wobei ihr Befehlshaber, Ludwik Mierosławski, darin die Anfänge der polnischen Armee sah, die alle polnischen Gebiete befreien und einen unabhängigen Staat wiederaufbauen würde. Aber es kam anders. Die Preußen attackierten das polnische Lager in Książ und massakrierten seine Verteidiger, und die Polen mussten trotz der ehrenvollen Siege bei Miłosław und Sokołowo die Waffen niederlegen. Den Gefangengenommenen wurden verschiedene Erniedrigungen und Schikanen zuteil. Und am meisten überraschend war, dass gegen die polnischen Nationalbestrebungen aktiv ein großer Teil der lokalen deutschen und jüdischen Bevölkerung protestierte; das polnische Problem hörte also auf, eine Frage der staatlichen Politik zu sein und nahm die Züge eines nationalen Konflikts an. Der Niedergang der mit der europäischen Manifestation der Freiheitsbestrebungen im Jahr 1848 verbundenen Hoffnungen drosselte jedoch nicht die Energie, die in den vorigen Jahren freigesetzt wurde. Sie bahnte sich ihren Weg in zwei einander ergänzenden Arten von Aktivitäten, die für die nächsten Jahrzehnte das polnische Handeln prägen sollten; neben des reaktivierten Programms der organischen Arbeit war es auch die parlamentarische Tätigkeit. Diese letztere resultierte aus der Verabschiedung der Preußischen Verfassung und der Einberufung des Landtags in Berlin, in dem sich auch polnische Abgeordnete versammelten, die durch die Stimmen der polnischen Gemeinschaft gewählt wurden und ihre Bestrebungen und Interessen repräsentierten. Seit 1849 im Polnischen Kreis (Koło Polskie) versammelt, der nach der deutschen Einigung im Jahr 1871 auch in den Reichstag berufen wurde, bemühten sie sich darum, von der Tribüne des Parlaments die polnische Nation zu schützen und öffentlich die Verletzung der ihr zustehenden Rechte anzuprangern.

Die Wahlen zu den beiden Parlamenten waren eine gute Gelegenheit zur Mobilisierung der polnischen Gemeinschaft auf der Ebene des gesamten Teilungsgebietes, zum Artikulieren ihrer Bestrebungen und zur internen Integration, und sie erzwangen auch die Herausbildung eines Verbindungsnetzes, der alle Polen umfasste und wirksame Durchführung der Wahlen ermöglichte. Die politische Aktivität im parlamentarischen Forum ergänzte das Programm der organischen Arbeit.

Es ist nämlich kein Zufall, dass dieser Begriff gerade im Jahr 1848 in die polnische Sprache der öffentlichen Debatten eingeführt wurde.Diesmal kam das in dem weit gefassten Konzept der Polnischen Liga (Liga Polska) zum Ausdruck, die die Gesamtheit der polnischen nationalen Aktivität zusammenfassen sollte. Anfangs entwickelte sich die Liga dynamisch nicht nur in der Provinz Posen, sondern auch in Pomorze Gdańskie (Pommerellen); aber im Jahr 1850 führten die Preußen mit Rechtsmitteln ihren Untergang herbei. Die neue Entwicklungsphase des Systems der organischen Arbeit begann Anfang der 60er Jahre, nicht ohne Einfluss eines allgemeinen gesellschaftlichen Aufbegehrens in den polnischen Gebieten vor dem Januaraufstand. Die Posener haben im Aufstand selbst ihr Blut vergossen, und die Region war eine Zeit lang eine wesentliche Stütze der aufständischen Bewegung. Nach der Niederlage waren die Posener Eliten gut vorbereitet, um erneut ihre Aktivität im Rahmen der organischen Arbeit aufzunehmen, ohne diesmal zu versuchen, eine einzige große Struktur mit gesamtnationalem Ziel zu erschaffen, sondern sie gründeten vielmehr Organisationen, die sich auf eine bestimmte Art von Aktivität spezialisierten und die aus der Sicht des preußischen Rechts nicht anfechtbar waren. So organisierten die Posener Gutsbesitzer eine Zentrale Wirtschaftliche Gesellschaft (Centralne Towarzystwo Gospodarcze), die Bauern schlossen sich zu landwirtschaftlichen Kreisen zusammen, die sich unter der Leitung ihres langjährigen Schirmherrn Maksymilian Jackowski dynamisch entwickelten. In den Städten erschienen Industrieverbände, und ab der Mitte der 80er Jahre der Turnverein „Falke“ (Towarzystwo Gimnastyczne Sokół), dem es mehr um die Pflege des nationalen Bewusstseins als um körperliche Ertüchtigung ging. Ungeheuer wichtig, waren die sog. Erwerbsgenossenschaften, weil sie Kapital für die Modernisierung der Werkstätte, Läden und landwirtschaftlicher Betriebe lieferten; diese vereinigten sich unter dem im Jahr 1871 gegründeten Związek Spółek Zarobkowych i Gospodarczych (Verband der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften), deren Schirmherr der Vikar aus Środa, Pfr. Augustyn Szamarzewski, war. Seine Blüte erreichte er Ende XIX. Anfang XX. Jh. unter einem weiteren Schirmherrn, Pfr. Piotr Wawrzyniak, einem wahren wirtschaftlichen und organisatorischen Genie. Mit Bildungsarbeit befasste sich zuerst die Gesellschaft für Volksbildung (Towarzystwo Oświaty Ludowej), und später die Gesellschaft der Volksbüchereien (Towarzystwo Czytelni Ludowych) und die Gesellschaft „Warta“ („Wache“) von Aniela Tułodziecka, einer der führenden Vertreterinnen der sich gesellschaftlich immer aktiver engagierender Frauen. Eine wichtige Rolle spielte die polnische Presse mit dem „Dziennikiem Poznańskim” (Posener Tageszeitung) und „Kurierem Poznańskim” (Posener Kurier) an der Spitze; und seit den 90er Jahren wurde auch in Massenauflagen „Przewodnik Katolicki” (Katholisches Vedemecum) herausgegeben. Das erlaubte eine wirksame Bekämpfung der neuen Germanisierungswelle, die in den 70er Jahren durch die Politik des Kulturkampfes angekündigt wurde, die sich gegen die Kirche und Bildung richtete; und ab 1886 wurde gezielt eine Politik geführt, die die nationale Gestalt der östlichen Provinzen verändern wollte, deren Werkzeug die Ansiedlungskommission war, eine Geschäftsstelle der Regierung, die sich mit Neuansiedlung Deutscher in der Provinz Posen und in Ostpreußen befasste. Die immer drastischeren antipolnischen Maßnahmen brachten jedoch aus deutscher Sicht nicht die erwarteten Resultate. Ende XIX. Anfang XX. Jh. bildeten die Polen in der Provinz Posen eine in sich geschlossene, gut organisierte Gemeinschaft, die immer mutiger in die Städte einzog und wirksam mit Deutschen und Juden konkurrierte.

Die Veränderungen des Profils der polnischen Gesellschaft begleitete auch der politische Generationswechsel, der durch die erstarkende Nationale Demokratie symbolisiert wurde, die das politische Antlitz der polnischen Gesellschaft dieser Region dominierte und in engem Kontakt zu den anderen Teilungsgebieten stand. Gleichzeitig erzwang der preußische Druck neue Formen des Handelns und des Protests. So hatten die Schulstreiks in den Jahren 1901 und 1906, an denen sich Tausende von polnischen Kindern beteiligten, damit das Gebet, das letzte Refugium des Polentums in der gründlich germanisierten Schule, weiterhin in polnischer Sprache gesprochen werden konnte, einen breiten Wiederhall in ganz Europa. Zum Symbol des unnachgiebigen um das polnische Land wurde der Widerstand von Michał Drzymała, der in einem Zirkuswagen lebte, weil man ihm die Genehmigung für den Bau eines Hauses auf seinem Grundstück verweigerte. Unter solchen Bedingungen ergriff nun auch die junge Generation, die sich nicht mehr dem bisherigen Posener Legalismus verbunden fühlte, das Wort bei der Verteidigung der polnischen Nationalität. 1912 entstanden in Posen die ersten geheim tätigen Pfadfindergruppen. Im nächsten Jahr kam es vor dem Posener Denkmal von Adam Mickiewicz zu Gefechten zwischen den jungen Demonstranten und der Polizei. Die jungen Polen verloren langsam die Geduld. Fünf Jahre später sollten sie die Kader des Großpolnischen Aufstandes bilden.