Kulissen des Großpolnischen Aufstandes

Die Deutschen und das polnische Problem

Przemysław Hauser

In den letzten Wochen des durch die Mittelmächte verlorenen Krieges erfuhr in Deutschland die Politik in Bezug auf die polnische Frage eine plötzliche Kehrtwende. Das Konzept des polnischen Staates als eines Fragments des dem Deutschen Reich untergeordneten „Mitteleuropas“ zerfiel endgültig in Trümmer. Die Deutschen fanden sich unerwartet in einer Verteidigungsposition ein, was ihre östlichen Grenzen seit 1913 anging, und mussten sich gegen polnische Forderungen verteidigen. 

Diese Verteidigung wurde an einer sehr weiten Front geführt, und man bemühte sich, die gesamte sich verändernde Konstellation der politischen Kräfte im Osten Europas zu beeinflussen. Man legte besonderen Wert darauf, den eng mit der Entente verbundenen (und somit programmatisch antideutsch eingestellten) Politikern den Weg zur Macht im künftigen Polen zu versperren, indem man den Regentschaftsrat unterstützte und später dem Piłsudski die Rückkehr aus Magdeburg nach Warschau erleichterte. Eine ähnliche Politik wurde östlich von Bug und in den anderen Gebieten des während des Weltkrieges eroberten russischen Kaiserreiches geführt. Man bemühte sich, die Position Deutschlands perspektivisch vor allem in den Ostseeländern zu stärken und die ukrainischen und weißrussischen Gebiete so lange wie möglich beizubehalten. Die militärische und politische Gegenwart Deutschlands in diesen Gebieten konnte, unabhängig von den mit der Gesamtheit der deutschen Politik im Osten zusammenhängenden Angelegenheiten, mittelbar den polnischen Staat in Schach halten und seine etwaigen politischen oder militärischen Vorhaben der Wiedergewinnung der Gebiete in der preußischen Teilungszone einschränken. Derselbe Gedanke ist in der deutschen Reaktion auf die Unabhängigkeitserklärung der Tschechoslowakei feststellbar; der deutsche Generalstab war der Ansicht, dass man mit dem neu entstandenen Staat Spannungen vermeiden sollte, und wies darauf hin, welche eine Gefahr ein eventuelles polnisch-tschechisches Bündnis für Oberschlesien darstellen könnte.

 

Die oben erwähnten deutschen Handlungen hatten eine nur unterstützende Bedeutung im Streben nach der Aufrechterhaltung der Gebiete der preußischen Teilungszone innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches. Die Gefahr ihres Verlustes resultierte unmittelbar aus Wilsons 14 Punkten, die die deutsche Regierung Anfang Oktober 1918 als Grundlage der Waffenstillstandsverhandlungen zu akzeptieren gezwungen war. Diese Lage nutzend, haben die Vertreter der polnischen Bevölkerung in Deutschland, basierend auf Punkt 13 der Ansprache Wilsons das Konzept eines Anschlusses der Gesamtheit der Gebiete in dem preußischen Teilungsgebiet an den entstehenden polnischen Staat vorgeschlagen. Man erhoffte sich im Grunde eine positive Entscheidung des kommenden Friedenskongresses in dieser Sache. Auf die Entscheidung dieses Kongresses warteten auch die Deutschen, die hofften, dass sie keine oder möglichst geringe territoriale Verluste im Osten davontragen werden.

Weil man die Reichweite der Aktion, die eine Abtrennung der Gebiete der preußischen Teilungszone von Deutschland einschränken wollte, erwog man zwei Möglichkeiten der aktuellen Politik gegenüber der polnischen Bevölkerung in Deutschland. Zahlreiche deutsche Politiker waren der Ansicht, in der sie durch besonders nationalistisch eingestellten Teil der öffentliche Meinung bestärkt wurden, dass die beste Methode der Verteidigung der östlichen Grenzgebiete des wilhelminischen Reiches eine Fortsetzung der früheren „harten“ politischen Linie gegenüber den Polen und die Einschwörung der deutschen Bevölkerung gegen die „polnische Gefahr“ sei. Ein Teil der andersdenkenden Politiker und deutscher Einwohner der polnischen Provinzen Preußens war der Meinung, dass Zugeständnisse gegenüber den Polen in Form der Aufhebung der außerordentlichen Gesetze und der Angleichung der Rechtslage der beiden Nationen die Chance vergrößert, die östlichen Provinzen in Deutschland beizubehalten. Eine solche Politik wird – wie sie meinten – nicht nur die irredentischen Bestrebungen der polnischen Bevölkerung schwächen, sondern auch ermöglichen, dass man mit dieser Karte auf der ausstehenden Friedenskonferenz gewinnt. Die Befürworter dieser Linie stammten nicht nur von den linken Kreisen und den Pazifisten; sondern hierher gehörten auch die realistischer denkenden deutschen Politiker, die weit von der Polonophilie entfernt waren und die Notwendigkeit einer Veränderung der Politik gegenüber der polnischen Sache und den Polen in einer internationalen Situation, wie sie im Oktober 1918 vorlag, erkannten.

Das war ein Streit um die Methode des Kampfes, aber nicht um den Kernpunkt der Sache. Formal verteidigten nämlich alle politischen Parteien angefangen von den Rechtsextremen bis zur SPD lautstark die Integrität der östlichen Grenzen des Deutschen Reiches und wurden darin durch die öffentliche Meinung der Deutschen bestärkt. Die Forderungen, die damals öffentlich nur durch die Anführer der USPD geltend gemacht wurden und die Möglichkeit des Verlustes eines Teils Großpolens zusammen mit der Provinz Posen zuließen; wichen von der scheinbar übereinstimmenden Einstellung der Regierung und der Bevölkerung in dieser Frage ab. In Wirklichkeit rechnete ein Teil der realpolitisch denkenden Politiker in der Regierung von Max von Baden, sowie auch außerhalb dieser Regierung, die sich darüber im Klaren waren, dass die deutsche Volkszählung ein großes zahlenmäßiges Übergewicht der polnischen Bevölkerung bestätigte, mit einem Verlust zumindest eines Teils dieser Gebiete an Polen.

Es ist verständlich, dass solche Ansichten nicht offen geäußert wurden. In der Innenpolitik würde das nämlich bedeuten, sich an den Pranger der deutschen öffentlichen Meinung zu stellen, in der noch das Motto der Verteidigung der Integrität der Grenzen von 1913 dominierte. In der Auslandspolitik würde das den Verlust eines Verhandlungsgebietes in den künftigen Friedensverhandlungen bedeuten. Wenn man das Konzept der Erhaltung der Gesamtheit des preußischen Teilungsgebietes in Deutschland durchsetzen würde, könnte man in den künftigen Friedensverhandlungen in der Frage der staatlichen Zugehörigkeit der Provinz Posen „nachgeben“ und „dafür“ andere durch die polnischen Bestrebungen bedrohten Gebiete retten. Die auf der deutschen Seite bestehende Gefahr eines Verlustes anderer Provinzen Ostpreußens (außer der Provinz Posen) schien damals deutlich differenziert zu sein. Die Zugehörigkeit Ostpreußens beunruhigte Deutschland weitaus weniger als – Oberschlesiens Zugehörigkeit. Für die Realpolitiker und deutsche Aktivisten war die Zukunft Westpreußens und nicht Großpolens der Schlüsselpunkt, in dem sich die polnischen Bestrebungen mit den deutschen kreuzten, weil mit dem Verlust des „Kerns der Provinz Posen“ kraft der künftigen Bestimmungen des Friedensvertrages zu rechnen war. Die Erhaltung Westpreußens innerhalb der Grenzen Deutschlands, auch im Falle eines Verlustes des Großteils der Provinz Posen würde eine Fortsetzung des bisherigen Konzepts der Ostmark (wenn auch in einer zugegebenermaßen viel schmaleren Form) bedeuten. Ein eventueller Anschluss Westpreußens an Polen, wodurch die Einheitlichkeit des deutschen Territoriums durchbrochen wäre, würde dieses Konzept durchkreuzen.