Kulissen des Großpolnischen Aufstandes

IGNACY JAN PADEREWSKI UND POSEN IM DEZEMBER 1918

Marek Rezler

Ignacy Jan Paderewski, ein großer Patriot, Musiker und Pianist, der Posen seit 1890 besuchte. Am 13. Februar 1890 trat er in dem (heute nicht mehr existierenden) Jean Lambert-Saal in Piekary und zwei Tage später im Polnischen Theater auf. Das nächste Mal war er dann am 29. Oktober 1901 in Posen, als er im Lambert-Saal, und am 12. Dezember desselben Jahres – im Polnischen Theater spielte.

Der berühmteste Aufenthalt von Ignacy Paderewski in Posen ist mit den dem großpolnischen Aufstand vorangehenden Ereignissen verbunden. In den politischen Wirren, die in der Hauptstadt des wiedererstehenden Staates herrschten garantierte der allgemein geschätzte Künstler und Patriot eine Beruhigung der Gemüter, denn er war eine Person, die über allem parteiischen Ehrgeiz und den Emotionen stand. Am wahrscheinlichsten hat der britische Außenminister Arthur Balfour während eines in London Mitte Dezember 1918 geführten Gesprächs Paderewski zur Reise bewogen. Um nicht über Deutschland zu fahren wurde zuerst eine Reise mit Fahrzeugen über Österreich und Tschechoslowakei erwogen, aber letztendlich stimmten die Briten einer Seereise nach Danzig zu, von wo aus der Künstler nach Warschau mit dem Zug weiterfahren sollte. Allerdings fand zuvor zwischen dem 14. und 16. Dezember 1918 ein Treffen mit dem Polnischen Nationalkomitee in Paris statt, wo die Mission des Künstlers volle Unterstützung erhielt. Am 22. Dezember bestieg Paderewski mit seiner Frau und dem Major Zygmunt Iwanowski aus der Polnischen Armee in Frankreich das Bord des englischen Kreuzers HMS „Concord” in Harwich. Am nächsten Tag schlossen sich ihnen in Kopenhagen die Offiziere der britischen militärischen Mission an: Oberst Harry Wade, Kapitän zur See Henry B. Rawlings und Oberleutnant Roy G. Langford sowie der ehemalige Sekretär des Künstlers, Sylwin Strakacz. Anfänglich nahm man an, dass der nach Warschau fahrende Künstler in Posen haltmachen würde, um die aktuelle politische Lage und die Einzelheiten des Anschlusses der Gebiete der preußischen Teilungszone an die wiedererstandene Rzeczpospolita nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages zu besprechen.

Paderewski kam am 25. Dezember gegen Morgen in Danzig an. Dort traf er sich mit den Vertretern des Kommissariats des Obersten Volksrates: Wojciech Korfanty, Stefan Łaszewski und Józef Wybicki.

Die Nachricht von der nahenden Ankunft Paderewskis nach Polen erreichte Posen schon am 21. Dezember, in Form eines Telegramms aus Lausanne, und wurde im „Kurier Poznański“ (Posener Kurier) publiziert, wodurch die Unabhängigkeitskreise in der Stadt elektrisiert wurden. Als dann einige Tage später klar war, dass der Künstler über Posen fahren und in der Hauptstadt Großpolens haltmachen wird, machten diese Kreise darauf aufmerksam, dass man den Künstler vor dem unberechenbaren Verhalten der deutschen Bevölkerung und der deutschen Armee schützen müsse. Man ließ in die Stadt die Abteilungen der Volkswehr aus der Umgebung kommen und es herrschte eine allgemeine Aufregung. Die deutsche Seite, die sah, was geschieht, bemühte sich um jeden Preis Paderewski nicht aus dem Zug aussteigen zu lassen; die politischen Gespräche sollten (wie es damals oft praktiziert wurde) im Waggon, auf dem Bahnhof stattfinden. Der Künstler selbst, dem die Lage in Posen unbekannt war, wurde auf den Eisenbahnstationen zwischen Danzig und Posen feierlich durch die lokale Bevölkerung begrüßt. In Rogoźno betrat den Zug gegen 11:00 der deutsche Hauptmann Andersch, der das Außenministerium repräsentierte, der Paderewski die Aufforderung übermittelte, nicht in Posen haltzumachen, was dieser entschlossen verweigerte. In dieser Lage haben die Deutschen, um die Umzüge zu behindern die Straßenlichter in der Stadt ausgeschaltet. Im Endeffekt war Posen zwei aufeinanderfolgende Tage nach dem Anbruch der Dämmerung nur durch die Fenster der Einwohner und Ladenvitrinen beleuchtet. Allerdings hatten die Paderewski empfangenden Polen Fackel und unterschiedliche Arten von Laternen mit sich geführt.

Am Donnerstag 26. Dezember um 21:10 Uhr kam auf dem kaiserlichen Bahnhof in Posen der Zug an, in dem der Künstler und die ihn begleitenden Offiziere der Alliierten Mission fuhren. Der Enthusiasmus der auf der Dworcowa-Straße versammelten Menge erreichte den Höhepunkt; sogar noch in diesem Moment versuchten die Vertreter der deutschen Regierung erfolglos, den Künstler nicht aus dem Zug aussteigen zu lassen. Nach einer offiziellen Begrüßung im ehemaligen kaiserlichen Bahnhofsgebäude wurden die Gäste mit einer Kutsche durch die Straßen Dworcowa, Święty Marcin und Aleją Wilhelmowską (Marcinkowskiego), mitten durch die jubelnden Mengen polnischer Stadteinwohner zum Hotel „Bazar“ gefahren. Die Ankömmlinge begleiteten eine Eskorte der Ehren-Volkswehr (Honorowa Straż Ludowa) und die Schützen der Volkswehr und des Turnvereins „Sokół”. Dort angekommen hielt Paderewski Ansprachen an die versammelte Menge, eine aus dem Fenster über dem Hoteleingang, eine zweite – in der Lobby, wo er sich mit den Journalisten und offiziellen Gästen traf. Am nächsten Tag wurden diese Ansprachen in der polnischsprachigen Posener Presse gedruckt. Er forderte nicht zum Kampf auf, bemühte sich, die Stimmungen zu dämpfen und drückte seine Freude anlässlich der durch Polen wiedererlangten Unabhängigkeit aus. In der Hotellobby wurde der Künstler durch den Stadtpräsidenten von Posen Jarogniew Drwęski, und im Namen des Obersten Volksrates durch Bolesław Krysiewicz begrüßt. Der Künstler wohnte im Eckapartment des Hotels im ersten (de facto zweiten) Stock, von der Seite der Alleen Wilhelmowska und Nowa (Paderewskiego).

Seitdem befand sich I. J. Paderewski in ziemlich komplizierter Lage. Denn der aufrichtige Patriot und großer Fürsprecher der polnischen Sache fuhr nach Warschau vor allem als Vertreter der polnischen Regierung (obwohl es damals noch nicht bekannt war, dass er Premier und Außenminister werden würde) und musste sich an die in der Diplomatie geltenden Regeln halten. Alle plötzlichen Ereignisse in Großpolen, die mit seiner Person in Zusammenhang gebracht werden könnten, würden die Warschauer Regierung belasten und auf der Friedenskonferenz in Paris als Schaffung vollendeter Tatsachen betrachtet werden, die man nicht mit den verbündeten Entente-Großmächten absprach. Die polnische Sache (die im Grunde nur noch durch Frankreich unterstützt wurde) würde auf der Konferenz weitere Pluspunkte einbüßen. Und die Verkomplizierung der Situation in Großpolen könnte ihre Chancen wesentlich verschlechtern. In dieser Situation nötigen alle diese Umstände den Künstler zur Entscheidung, an einer „Diplomatenkrankheit“ zu erkranken. In den Memoiren des Künstlers ist die Rede von einer starken Erkältung, die sich I.J. Paderewski noch während der Reise mit dem englischen Kreuzer zugezogen haben soll, was dem Künstler die Rechtfertigung erleichterte, warum er seit dem Abend, den 26. Dezember 1918 nicht mehr in der Öffentlichkeit erscheine.

Paderewski blieb dieser Entscheidung konsequent am Nachmittag, den 27. Dezember treu, als vor dem Hotel „Bazar“ ein Umzug aus mehreren Tausenden von Schulkindern (nicht nur den deutschen) stattfand. Zu den Kindern ging die Ehefrau des Künstlers heraus, er selbst empfing, im Bett liegend, nur eine Delegation aus ein paar Personen. Seine Beschwerden hinderten den Künstler jedoch nicht daran, mit den Vertretern des Kommissariats des Obersten Volksrates politische Gespräche zu führen und noch am selben Tag, nachmittags und abends ein Bankett zum feierlichen Anlass vorzubereiten.

Am 27. Dezember, um 16:00 Uhr begann auf dem Gelände des zoologischen Gartens in der Zwierzyniecka-Straße eine Kundgebung der deutschen Nationalisten, die beschlossen haben, einen Demonstrationszug zum Stadtzentrum zu veranstalten, der den Eindruck von der am Vortag stattgefundenen Demonstration der polnischen Bevölkerung neutralisieren sollte. Diese Aktion war vollkommen rational begründet, angesichts der Tatsache, dass in dem damals 165 Tsd. zählenden Posen die polnische Bevölkerung nur die Hälfte bildete, und die restlichen 50 % Deutsche und die ihnen meistens gewogenen Juden waren.

Man muss dabei unterstreichen, dass entgegen den durch die polnischen nationalen Kreise verbreiteten Befürchtungen, von der deutschen Seite keine Gefahr für Paderewski ausging. Der Künstler war allgemein geschätzt, und seine patriotischen, aber nie chauvinistischen Auftritte wurden mit Verständnis aufgenommen. Die deutschen Schulkinder, die am Mittag den 27. Dezember am Umzug teilnahmen, waren vor allem durch die Neugier motiviert, die polnischen auch – aber mit patriotischem Hintergrund. Die deutschen Kreise reagierten wiederum sehr allergisch auf die Gegenwart der englischen Offiziere in der Begleitung des Meisters, und vor allem auf die Flaggen der Entente, die in den Fenstern und Vitrinen der Posener Häuser erschienen. Die polnischen Flaggen in der Stadt waren die Deutschen schon seit dem Polnischen Teilsejm (Polski Sejm Dzielnicowy) seit Anfang Dezember gewohnt. Aber die amerikanischen Flaggen, vor allem die englischen und französischen waren ein Stein des Anstoßes, zumal ja die Polen noch vor ein paar Wochen an der Seite der Deutschen gegen die Armeen der Entente kämpften. Das Aushängen dieser Flaggen wurde als ein Beweis der Illoyalität und des Verrates angesehen.

Zwischen 17:00 und 17:30 Uhr kam der Umzug in der Umgebung von „Bazar“ an und stand der durch die Posener Abteilung der Volkswehr gebildeten Absperrung gegenüber. In dem Moment gab jemand aus der Menge einen Schuss ab – es ist unbekannt, wer und gegen wen; in der allgemeinen Anspannung war das der Funke, der zur Explosion führte. Es entfesselte sich eine allgemeine Verwirrung und Schießerei, die erst nach einer bestimmten Zeit anfing, organisierte Formen anzunehmen, die es erlaubten, die Seiten des Konflikts zu unterscheiden. Der Künstler und seine Begleitung, die sich gerade an einer Teilnahme am Bankett zu ihrer Ehre vorbereiteten, wurden in die tiefer im Hotel gelegenen Räume gebracht – nicht ohne Grund, zumal man später in den Fenstern des Apartments eine Reihe von Löchern – Spuren der Gewehrpatronen entdeckte. Niemandem ist aber etwas zugestoßen. Gegen 18:00 kam im „Bazar“ Roder Blankertz, der Bevollmächtigte der Exekutivabteilung des Arbeiter- und Soldatenrates, mit dem Vorschlag an, die Polen sollen die Waffen niederlegen, und der Kapitän zur See Rawlings versuchte, im Oberkommando des V. Korps in der Solna-Straße in der Sache eines eventuellen Schutzes für I. J. Paderewski und die Vertreter der britischen Mission zu verhandeln; beide Versuche scheiterten. Der Künstler blieb im Abseits stehen.

Ab diesem Moment verließ I.J. Paderewski, sorgfältig beschützt, bis zur seiner Abreise aus Posen nicht mehr das Hotel, und führte nur vor Ort Gespräche mit den Posener Politikern. An der Tätigkeit des Kommissariats des Obersten Volksrates und des Oberkommandos nahm er nicht teil, was vollkommen mit der durch ihn eingenommenen Haltung einer offiziellen Neutralität in Anbetracht der aufständischen Handlungen übereinstimmte. Die manchmal in den paradokumentarischen Filmen, die einen durch die Stadt gehenden, sich unter Soldaten aufhaltenden und mit dem Major Stanisław Taczak sprechenden Künstler zeigen, sind eine Frucht der Phantasie des Regisseurs.

Am Nachmittag, den 31. Dezember 1918 traf I. J. Paderewski Vorbereitungen für seine Weiterreise nach Warschau vor. Damals wollten die Soldaten der Kórnicka-Kompanie, die ein paar Tage früher nach Posen zu seinem Schutz anreisten, den Künstler sehen. Der Meister hielt daraufhin eine Ansprache mit Danksagungen vor den im Innenhof des Hotels versammelten Soldaten. Als nächstes wurde er ohne viel Aufsehen mit dem Wagen zum Bahnhof gebracht, von wo er um 2:00 Uhr nachts mit dem Zug nach Ostrów Wielkopolski und nach Kalisz losfuhr – denn damals gab es noch keine direkte Eisenbahnverbindung zwischen Posen und Warschau. Wenn man dem Künstler selbst Glauben schenkt, begleitete ihn eine bewaffnete Eskorte polnischer Soldaten. Aus Kalisz schickte er nach Posen ein Telegramm mit Danksagungen für einen wunderbaren Empfang, ohne aber auch nur mit einem einzigen Wort den Ausbruch des Aufstandes zu erwähnen. In den später veröffentlichten Memoiren beschrieb der Künstler die aufständischen Ereignisse in Posen sehr allgemein und ungenau, auf eine Weise, die von seiner mangelnden Orientierung was die Situation angeht und seinem mangelnden Engagement in den aufständischen Angelegenheiten zeugte – womit er zugleicht die Aufrichtigkeit seiner Haltung in den Tagen 26.-31. Dezember in Posen glaubwürdig bezeugte.

In der Hauptstadt trat I. J. Paderewski das Amt des Premiers und des Außenministers an. Er kam am 8. März 1919 wieder nach Posen, um die Großpolen zur Unterstützung beim Entsatz des durch die Ukrainer belagerten Lembergs zu agitieren. Ein paar Monate später, am 27. Dezember, nahm er, feierlich begrüßt, an den Feierlichkeit des ersten Jahrestages des Ausbruches des großpolnischen Aufstandes teil. Es wiederholten sich dieselben Begrüßungszeremonien die vor einem Jahr stattfanden, der Künstler hielt erneut eine Ansprache aus dem Fenster des Hotels. Die an diesem Tag gemachten Fotoaufnahmen werden heute oft mit dem Untertitel versehen „Ankunft am 26. Dezember 1918“.

Das letzte Mal hielt sich der Meister in Posen zwischen dem 22. und 29. November 1924 auf. Es waren Tage, die vor allem seiner Person galten. Mit großer Ehrerbietung behandelt, wohnte er wie zuvor im „Bazar”. Am Samstag, den 22. November erhielt Paderewski das Diplom eines Ehrenbürgers der Stadt Posen. Am nächsten Tag holte er sich in der Aula der Universität den Ehrendoktortitel der Universität Posen ab, und am Nachmittag wurde ein Ehrenumzug vor dem Hotel veranstaltet, aus dessen Fenster der Künstler eine Ansprache hielt. Am Abend desselben Tages, am 23. November 1924 fand in der Oper eine feierliche Aufführung der Oper „Maria“ von Henryk Opieński statt. Am nächsten Tag wurde in der Aula der Universität ein Konzert organisiert, auf dem die Werke von I. J. Paderewski mit der Teilnahme des Komponisten gespielt wurden. Die nächsten Tage waren auch von einem Programm für den Gast ausgefüllt. Am Mittwoch, am 26. November besuchte der Künstler die Schüler der seinen Namen tragenden Schule – zuerst in der Schule, und am Nachmittag im Gebäude des Polnischen Theaters. An den freien Tagen und Stunden machten die Eheleute Paderewski private Besuche in den gastfreundlichen Häusern ihrer Bekannten aus Posen. Somit wurde diese Zeit sehr intensiv genutzt.

Es war der letzte Besuch Paderewskis in Posen. Der mit Józef Piłsudski zerstrittene und nach seinem Tod an der Spitze der oppositionellen Front Morges stehende Künstler hatte weder Zeit noch Möglichkeit nach Polen zu reisen. Aber er hat Posen nicht vergessen. Im Jahr 1933 spendete er der Stadt ein Denkmal des Präsidenten W. Wilson. Posen wiederum hat ihn im Jahr 1928 mit einer originellen Gedenktafel auf dem Gebäude von „Bazar“ geehrt.

Nach dem zweiten Weltkrieg, am 24. November 1980 wurde die Posener Musikakademie mit dem Namen von Ignacy Jan Paderewski benannt. In den Tagen 3.-4. Juli 1992 wurde der Sarg mit den Überresten von I. J. Paderewski auf dem Weg nach Warschau in Posen geehrt; es wurde damals exakt dieselbe Strecke gefahren wie am Abend 26. Dezember 1918, als der Meister anreiste. Am 6. Mai 2015 wurde auf Initiative der Hipolit Cegielski-Gesellschaft in Posen im neuen Gebäude der Ignacy-Jan-Paderewski-Musikakademie ein Denkmal des Künstlers nach einem Projekt von Radosław Nowak enthüllt.