Kulissen des Großpolnischen Aufstandes

Internationaler Kontext des Großpolnischen Auftstandes

Innerhalb von nur wenigen Jahren zwischen August 1914 und Oktober 1918 wurde das System der Großmächte, welches schon seit längerer Zeit die internationalen Beziehungen in Europa bestimmte sowie auch das Bild des mittelöstlichen Teils dieses Kontinents, der bislang durch drei Imperien: Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland besetzt war, prägte, empfindlich gestört. Aus dieser Unordnung sollte eine neue politische Wirklichkeit hervorgehen, und es mussten angesichts ihrer diejenigen Staaten, die aus dem Großen Krieg als Sieger hervorgegangen sind, nämlich Großbritannien und Frankreich, ihre Position definieren.

Die Vorbereitungen zur Friedenskonferenz, die am 18. Januar 1919 in Paris mit ihren Tagungen begann, und der Verlauf dieser Konferenz stellten den Kontext für die Ereignisse in Ostmitteleuropa dar, die sich durch Bildung neuer Staaten auszeichneten – die im Grunde genommen Nationalstaaten waren aber in ethnisch differenzierten Gebieten entstanden. Dieser Prozess sowie die Grundsätze und Bestrebungen der oben genannten zwei Großmächte legten die Bedingungen fest, in welchen der wiedererstehende polnische Staat entstand. Sie bildeten auch die Voraussetzungen für die Festlegung seiner territorialen Form und seiner geopolitischen Rolle, die es zwischen dem Kriegsverlierer Deutschland und dem revolutionierten Russland spielen sollte.

Das Territorium des wiedererstehenden Polens musste u.a. Gebiete umfassen, die bisher vorübergehend zu Deutschland gehörten. Eine offene Frage blieb auch die Größe der deutschen Verluste, d.h. der Verlauf der deutsch-polnischen Grenze, sowie der Weg, der dahin führen sollte. Unter den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches, die das polnische territoriale Programm umfasste, nahm die Provinz Posen einen besonderen Platz ein. In der Provinz Posen, die aus zwei Regierungsbezirken bestand: Regierungsbezirk Posen und Regierungsbezirk Bromberg, bildete die polnische Bevölkerung laut preußischen Statistiken von 1912 – 61,5 %[1].

Die politischen Aktivisten Posens bereiteten sich dazu vor, im passenden Moment von den Deutschen die Macht zu übernehmen; und dieser Moment kam dann auch mit dem Ausbruch der Revolution in Deutschland in den ersten Novembertagen des Jahres 1918. Das zuvor noch geheime Zentrale Bürgerkomitee (Centralny Komitet Obywatelski) verwandelte sich dann, am 11. November in den Volksrat (Rada Ludowa) (seit dem 14. November Oberster Volksrat (Naczelna Rada Ludowa)). Gleichzeitig war im Rahmen des Unabhängigkeitskampfes ein radikalerer Kreis tätig, der die Möglichkeit eines bewaffneten Aufstandes in Erwägung zog und geheime Vorbereitungen in dieser Richtung traf. Die Mitglieder des Obersten Volksrates (NRL) nahmen wiederum an, dass über die Zukunft Posens die Friedenskonferenz entscheiden wird. Diese Grundlage war sowohl durch die Taktik der evolutiven Gestaltung der laufenden Beziehungen mit der Berliner Regierung als auch durch die Überzeugung geprägt, dass die Erschaffung vollendeter Tatsachen durch die Entscheidungsträger des internationalen Forums schlecht aufgenommen werden könnte.

Die Regierungen der westlichen Großmächte und das in Paris tätige Polnische Nationalkomitee, das durch die Entente-Staaten als eine die polnische Sache offiziell vertretende Instanz anerkannt wurde, hielten es für angebracht, nach Warschau, wo sich seit dem 11. November 1918 die Regierungsinstanzen des entstehenden polnischen Staates organisierten, eine der führenden Persönlichkeiten des Polnischen Nationalkomitees (KNP), Ignacy Jan Paderewski, den weltbekannten Pianisten, der sich während des ersten Weltkrieges gesellschaftlich und politisch engagierte, zu schicken. Der Reiseweg von Paderewski sollte in Großbritannien Anfang nehmen und über Danzig und Posen führen. Weil man nur sehr wenig  über die Ereignisse in Warschau, und mehr noch in den Gebieten, die dem Deutschen Reich angehörten, wusste, wurde zusammen mit Paderewski nach Polen eine halboffizielle britische informativ-fernmeldedienstliche Mission unter dem Kommando von Oberst Harry Wade geschickt.

Die Ankunft von Paderewski und der Mission von Wade am 26. Dezember in Posen wurde zum Anlass für die Demonstrationen, die dann am nachfolgenden Tag, d.h. am 27. Dezember, den Anstoß zum Ausbruch des Großpolnischen Aufstandes gaben. Während seines Aufenthaltes in Posen, der bis zur Nacht vom 31. Dezember 1918 zum 1. Januar 1919 dauerte, sowie auch während seines späteren Aufenthaltes in Warschau (bis April 1919) übermittelte Wade nach London Berichte, die sich günstig für Polen auswirken sollten.

Der Ausbruch des Aufstandes wurde in London mit Zurückhaltung aufgenommen. Offiziell war es auch der Standpunkt der französischen Regierung – denn seine allzu eindeutige Unterstützung würde die Beziehungen innerhalb der Entente, vor allem mit Großbritannien, verkomplizieren. Die Großmächte erkannten, dass ein bewaffneter Konflikt mit Deutschland eine weitere Gefahr unter all jenen darstellte, denen damals Polen ausgesetzt war, und von welchen die größte Gefahr in der Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen dem revolutionierten Russland und Deutschland erkannt wurde, d.h. in der Ausbreitung der bolschewistischen Revolution nach Deutschland.

Polen sollte ein wesentliches Element eines antideutschen Systems sein, welches Frankreich im Ostmitteleuropa aufzubauen beabsichtigte. Die französischen Politiker signalisierten daher ihren propolnischen Standpunkt in den Sitzungen des Zehnerrates, der damals führenden Instanz der Friedenskonferenz. Eine wichtige Rolle spielte hier der Auftritt im Forum des Rates am 29. Januar 1919 des an der Spitze der polnischen Delegation bei der Friedenskonferenz stehenden, Roman Dmowski, der erschöpfend die aktuelle Lage Polens und sein territoriales Programm vorgestellt hat. Er begann dabei mit den polnisch-deutschen Beziehungen. Er stellte fest: „Sobald die Umstände es erlaubten, riefen die Polen ihre eigene Verwaltungsinstanzen ins Leben, wonach sie auf die Friedenskonferenz und ihre Entscheidung in der polnischen Sache warteten. Nur eines war ihnen dabei wichtig, dass Deutschland sie in keinster Weise in ihrem Streben behindere, sich mit den anderen Provinzen Polens zusammenzuschließen.“. Der bewaffnete Konflikt, so Dmowski, ist durch das Verschulden der deutschen Seite ausgebrochen, und inzwischen wären die Polen bereit, dem Aufruf des Zehnerrates vom 24. Januar 1919 zur Einstellung der bewaffneten Handlungen Folge zu leisten. Allerdings angesichts der deutschen Gefahr, „wird Polen unvermeidlich zermalmt, wenn die Verbündeten nicht beide Seiten (sowohl Deutsche als auch Polen) zurückhalten“[2].

Die Unterstützung Polens durch die Entente wurde stärker und entschlossener. Am 2. Februar 1919 übermittelte der Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Verbündeten, Marschall Ferdinand Foch, indem er den am vorigen Tag gefassten Beschluss des Zehnerrates ausführte, dem an der Spitze der interalliierten Waffenstillstandskommission stehenden General Alphonse Nudant den für die „deutschen Behörden im deutschen Polen“ bestimmten Befehl, „von jeglichem Einsatz der Streitkräfte in dieser Provinz und von jedweder Einmischung in das öffentliche Leben bis zur Beendigung der Friedenskonferenz abzusehen”[3]. Anlässlich der Sitzungen des Zehnerrates nutzte Georges Clemenceau erneut die Gelegenheit, als die Rede von der Situation in der Provinz Posen war, einen noch stärker antideutschen und damit propolnischen Standpunkt als seine englischen Partner einzunehmen. So sagte er am 7. Februar 1919: „Auf Wunsch der Verbündeten haben die Polen ein weiteres Vorrücken ihrer Armeen eingestellt, die Deutschen hingegen antworteten auf einen ähnlichen Wunsch mit unverhohlener Absage.“ und hat vorgeschlagen, zwecks Maßregelung der Deutschen – zumal sie ja „nur die Sprache der Gewalt verstehen“ – jeden Angriff von ihrer Seite im Gebiet Großpolens mit einem Vorrücken der alliierten Truppen im Westen zu bestrafen. Dabei fügte er noch im Zusammenhang mit den deutschen Bitten um die Lebensmittelunterstützung hinzu: „Sollen wir ihnen sagen: „Wenn Ihr aufhört, die Polen zu attackieren, dann geben wir euch Brot, Zucker und andere Produkte?“ Nein. Man muss ihnen sagen, dass wenn sie die Polen angreifen die alliierten Truppen in Deutschland einmarschieren werden.“ Dieser Standpunkt wurde jedoch nicht durch den Zehnerrat bewilligt[4]. Clemenceau kam in den nachfolgenden Tagen wieder auf seine Anregung zurück, aber ohne Erfolg.

In der ersten Februarhälfte des Jahres 1919 wurde im Forum des Zehnerrates die Sache einer erneuten Verlängerung des Waffenstillstands mit den Deutschen diskutiert. Clemenceau und Foch bemühten sich gemeinsam darum, dass der Waffenstillstand diesmal auch die umstrittenen Gebiete der Deutschen umfasse „in der Provinz Posen oder woanders”[5]. Ein solcher Beschluss wurde auch am 12. Februar 1919 in der Sitzung des Zehnerrates, die um die Teilnahme der Militärs erweitert wurde, wodurch der Zehnerrat als Alliierter Oberster Kriegsrat (Supreme War Council) tätig war, mit der  gleichzeitigen Ermächtigung zur Festlegung der Demarkationslinie durch Marschall Foch, gefasst; dabei wurde vorbehalten, dass ihr Verlauf nicht den Verlauf der künftigen deutsch-polnischen Grenze beeinflussen wird. Diese Bestimmungen wurden in die Bedingungen des Waffenstillstands in Trier, der am 16. Februar 1919 (im Gegensatz zu den vorangegangenen) fristlos geschlossen wurde, aufgenommen. Trotz des oben zitierten Vorbehaltes hatte eine solche Absicherung des im Verlauf des Aufstandes durch die polnische Seite beherrschten Gebietes eine fundamentale Bedeutung. In der Praxis bedeutete das, dass die Deutschen Großpolen verloren haben. Die Regierung in Berlin war sich bereits Ende 1918 über diese Lage im Klaren. Allerdings beraubten die durch den Aufstand geschaffenen fertigen Tatsachen und deren Bestätigung durch den Waffenstillstand von Trier die deutsche Seite des Druckmittels: in der Diskussion über den Verlauf der künftigen polnisch-deutschen Grenze konnten in Bezug auf Großpolen nur einzelne Fragen thematisiert werden, aber nicht die Tatsache seiner Zugehörigkeit zum polnischen Staat.

In den Tagen 22.-24. Februar 1919 hielt sich zur Kontrolle der Bestimmungen des Waffenstillstandes von Trier General Charles Dupont, Chef der interalliierten Militärmission in Deutschland, in Posen auf. Danach war die durch die Friedenskonferenz nach Polen geschickte interalliierte Mission, der Joseph Noulens vorstand, in Großpolen zu Gast. Eine ihrer Grundaufgaben war es, nach dem Waffenstillstand ein Abkommen abzuschließen, welches die polnisch-deutschen Beziehungen in diesem Bereich festlegen würde, während man auf die Unterzeichnung des Friedensvertrages mit den Deutschen wartete. Diese Bemühungen endeten jedoch mit Misserfolg wegen ihrer Behinderung von der deutschen Seite und der Differenzen zwischen den der Mission angehörenden Vertretern unterschiedlicher Großmächte. Weitere Handlungen der Entente nahmen die Form einer durch die Friedenskonferenz ins Leben gerufenen Kommission für polnische Angelegenheiten unter der Leitung von Jules Cambon an, deren Ziel die Bestimmung des Verlaufs der gesamten deutsch-polnischen Grenze war.

  


[1] Preussische Statistik Band 121, z. 2 S. 162-184, nach: S. Kowal, „Społeczeństwo Wielkopolski i Pomorza Nadwiślańskiego w latach 1871-1914 : przemiany demograficzne i społeczno-zawodowe”(„Die Gesellschaft Großpolens und der Pommerellen in den Jahren 1871-1914: demographische und gesellschaftlich-berufliche Veränderungen”), [Verlag] Wydawnictwo Naukowe UAM, Posen 1982, S. 222.

[2] Papers relating to the foreign relations of the United States, The Paris Peace Conference 1919, Vol. III, s. 774.

[3] Ibidem, S. 924-925.

[4] Ibidem, S. 903-906.

[5] Ibidem, S. 1005.