Kulissen des Großpolnischen Aufstandes

DIE UNABHÄNGIGKEITSIDEE IN DER PROVINZ POSEN

Janusz Karwat

DIE UNABHÄNGIGKEITSIDEE IN DER PROVINZ POSEN war bereits seit dem Untergang der Rzeczpospolita erkennbar. Man verwendete den Begriff indepenta d.h. Streben nach Souveränität. Es ist dabei hervorzuheben, dass die Vertreter der patriotischen Elite aus dem XIX. Jh. den Begriff der nationalen Existenz mit einer vollkommenen Unabhängigkeit gleichsetzten. Sie waren der Ansicht, dass die Aufrechterhaltung der nationalen Existenz auch ein Kampf um die Unabhängigkeit ist. Das bemerkte schon im Jahr 1841 der Oberpräsident des Großherzogtums Posen, Adolf von Arnim-Boitzenburg, der in seiner programmatischen Denkschrift feststellte, dass die Polen ihre Nationalität als ein „Verbindungselement zwischen den Trümmern des früheren polnischen Staates betrachten, um bei der ersten günstigen Gelegenheit, ihr Band mit den Preußen zu zerreißen und diese Trümmer zum polnischen Staat zusammenzufügen“. Die Unabhängigkeitsidee selbst als das Konzept der Wiedererlangung der Freiheit verstanden, kam in der Provinz Posen in zwei unterschiedlichen Zeiträumen zum Vorschein.

Im ersten Zeitraum, der bis zur Mitte XIX. Jh. dauerte, entwickelten sich die Unabhängigkeitskonzepte im Geiste der Aufklärung, und seit den 30er Jahren – im Geiste der Romantik. Damals existierten drei Konzepte des großpolnischen Unabhängigkeitsgedankens: als Insurrektion, eingeschränkte Souveränität und als Revolution. Das Insurrektionskonzept, das durch die Seiten der Konföderation von Bar initiiert wurde, entwickelte sich zur Zeit des Kościuszko-Aufstandes um 1794 und der preußischen Teilungsherrschaft, bis 1806. Zur Zeit des Herzogtums Warschau löste die Lehre von einer eingeschränkten Souveränität, im Rahmen einer größeren, über den Staat hinausgehenden politischen Struktur die aufständischen Losungen ab. Dieses Modell, das durch die Posener Eliten als ein vorübergehendes betrachtet wurde, wurde nach dem Wiener Kongress zum grundlegenden Standpunkt. Nach dem Ausbruch des Novemberaufstandes lebte der Insurrektionsgedanke wieder auf, und entwickelte sich in den 30er und 40er Jahren des XIX. Jh. in engem Zusammenhang mit der „Großen Emigration“. Gerade im Sinne der Emigrationspläne wurde die Provinz Posen in den 40er Jahren zum Hauptzentrum des alle drei Teilungsgebiete umfassenden Aufstandes. Nach den Misserfolgen des Völkerfrühlings und nach dem Posener Aufstand im Jahr 1848 kehrten die Anführer der polnischen Nationalbewegung zum Konzept einer eingeschränkten Freiheit im Rahmen des preußischen Staates zurück. Seine Befürworter, die Ultramontanen sowie auch die Liberalen, bemühten sich, es auf legalem Wege in den deutschen stellvertretenden Organen durchzusetzen, wobei sie sich auf die Bestimmungen des Wiener Kongresses stützten.

Während der langen Zeit bis zum Ende des I. Weltkrieges existierte die Unabhängigkeitsidee im Hintergrund, nur als strategisches Ziel. In der Dimension der tatsächlichen nationalen Handlungen war der Unabhängigkeitsgedanke sogar nicht wahrnehmbar. Wenn man die unterschiedlichen Ansätze des Unabhängigkeitsgedankens in der Provinz Posen zur Zeit des Bestehens der preußischen Teilungsherrschaft analysiert, lassen sich dabei einige gemeinsame Grundzüge feststellen. Die einzelnen Konzepte wurden mit dem Gedanken an die in den drei Teilungsgebieten lebende polnische Nation entwickelt. In der Praxis wurde nur in den 40er Jahren des XIX. Jh. ein Kampf gegen alle drei Teilungsmächte angestrebt, wobei Posen dabei als Zentrum der Aktion dienen sollte. Das maximale Ziel war die Souveränität innerhalb der Grenzen vor den Teilungen, und das minimale Ziel war eine eingeschränkte Unabhängigkeit Posens im Rahmen des preußischen Staates. In den entstehenden Plänen kamen zwei Gegner vor: Preußen und Russland; den Feind erblickte man aber nicht in der deutschen oder russischen Nation, sondern vielmehr in den Rechts- und Verwaltungsstrukturen dieser Großmächte.

Im politischen Denken der Posener Konservativen blieb bis zum Ende der Teilungsherrschaft Russland der Hauptfeind. Die Unabhängigkeitskonzepte begleitete die Suche nach einem äußeren Verbündeten für den geplanten Kampf. An der Seite dieses Verbündeten erblickte man den Platz Polens im künftigen Europa. Dieses Merkmal trat auch in allen Emigrationsprogrammen auf: des Hotels Lambert, der demokratischen Strömung und der revolutionären Linken, ja, schließlich auch im Polnischen Nationalkomitee in Paris. Seit den 30er Jahren des XIX. Jh. war der Unabhängigkeitsgedanke in der Provinz Posen mit der slawophilen Idee verbunden. Ohne ein freies Slawentum wurde kein freies Polen für möglich gehalten.

Anfänglich gestalteten die reichen Gutsbesitzer und der Adel den Unabhängigkeitsgedanken. Seit den 40er Jahren des XIX. Jh. nahm die Bedeutung der entstehenden Intelligenzschicht, der niederen Geistlichkeit und der plebejischen Schichten allmählich zu. Der Unabhängigkeitsgedanke verwirklichte sich in den Bedingungen einer Evolution der Haltungen der polnischen Gesellschaft, von der aufklärerischen bis zur romantischen, die den größten Einfluss hatte, bis hin zur organischen. Das Fundament der Unabhängigkeitskonzepte war die Überzeugung von der Notwendigkeit einer Verknüpfung der Freiheitsbestrebungen mit der Modernisierung der polnischen Gesellschaft im preußischen Teilungsgebiet. Die Anführer der polnischen Gemeinschaft in der Provinz Posen haben schon seit den Anfängen der Teilungsherrschaft bewusst erkannt, dass sie nicht das Objekt der Politik der preußischen Regierung sein wollen, sondern vielmehr das Subjekt ihres eigenen Schicksals sein möchten. Ihre Aktivität kam auf vielen Ebenen zum Vorschein: sowohl in der aufständischen Tätigkeit, als auch in der politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und Kultur und Bildung umfassenden Tätigkeit.

Oftmals waren dieselben „Aktivisten” in beiden Richtungen tätig: als Aufständische und als Befürworter der organischen Arbeit. Sie waren der Ansicht, dass diese beiden Haltungen ein Weg zur Unabhängigkeit waren. Man muss dabei anmerken, dass in der Provinz Posen kein positivistischer Umbruch nach dem Warschauer Vorbild eingetreten ist. Die beiden wichtigen Zäsuren waren der Völkerfrühling (1848) und der Zeitraum des Kulturkampfes (1871-1878), nach welchem das aktive nationale Bewusstsein zur allgemeinen Eigenschaft der Großpolen wurde. Die Posener Anhänger der irredenta aus der ersten Hälfte des XIX. Jh. äußerten die Ansicht, dass die Gebiete der preußischen Teilungszone durch einen bewaffneten Aufstand ihre Freiheit wiedererlangen. Wobei dieser Aufstand ein organisierter und von den Kräften der eigenen Nation zehrender Aufstand sein sollte, der nicht unbedingt günstige Umstände und Hilfe von außen berücksichtigen muss. Ein solcher günstiger internationaler Umstand sollte ein durch Preußen gegen Russland unternommener Krieg sein. Seit den 80er Jahren des XIX. Jh. haben die liberal-demokratischen Aktivisten, und später die Mitglieder der Nationalen Liga, die Nationalen Demokraten und die Pioniere der Volksbewegung die Wahrscheinlichkeit der Aufnahme eines Kampfes durch die Großpolen davon abhängig gemacht, ob Deutschland in einen Krieg gegen Russland oder gegen andere Großmächte verwickelt würde. Erst nach einer Schwächung des deutschen Staates haben sie den Ausbruch eines Aufstandes in den Gebieten der preußischen Teilungszone als begründet und sinnvoll betrachtet

Gegen Ende des XIX. Jh. wuchs in der Provinz Posen eine neue Generation der Polen heran, die die Bitterkeit der Niederlage noch nicht erfahren haben. Die in der Zeit des Positivismus erzogenen Menschen suchten nach neuen Perspektiven für die Nation. Das war der Entstehung neuer Bewegungen, Organisationen und moderner politischer Parteien förderlich. Manche Organisationen arbeiteten legal, in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht (so der Turnverein „Sokół” („Falke“), die großpolnische Pfadfinderbewegung), andere hatten einen konspirativen Charakter (TTZ (Tomasz-Zan-Gesellschaft), Związek Młodzieży Polskiej (Polnischer Jugendverband) „Zet”, Eleusis, PDS (Polnische Schützenabteilungen), Liga Polska (Polnische Liga) und Liga Narodowa (Nationale Liga).

Im Bereich der Wahl der Instrumente des Handelns wuchs eine Generation der Positivisten heran, die in ihrem geistigen Leben in einem hohen Maße Romantiker waren. Eine wichtige Gelegenheit, um praktische Tätigkeit militärischen Charakters aufzunehmen war das Grunwald-Treffen (Zjazd Grunwaldzki), das im Jahr 1910 in Krakau organisiert wurde. Aufgrund der durch die Posener Nationaldemokraten unternommenen Agitation reisten aus der Provinz Posen, trotz des Verbotes der preußischer Verwaltungsorgane und einer starken Gegenaktion der Konservativen, ca. 500 Personen unter der Leitung von M. Seyda an. B. Chrzanowski, K. Rzepecki, C. Rydlewski, Z. Sokolnicka, A. Trepiński i K. Zakrzewski die die Schirmherrschaft über die illegale Jugendbewegung übernahmen, dämpften gekonnt ihren Radikalismus.

Als politische Partei (seit 1901 Polnische Demokratische Partei (Polskie Towarzystwo Demokratyczne) hütete sich die ND (Nationale Demokratie) offiziell vor Losungen mit Unabhängigkeitscharakter. Die Ansichten der Nationalen Demokraten aus der Provinz Posen zum Thema des Gesamtbildes der polnischen Angelegenheit und ihrer Perspektiven spiegelten die Tendenzen und Bestrebungen des Lagers der Nationalen Liga wieder. Die großpolnischen nationalen Demokraten hatten dieselbe Evolution hinter sich wie die ND der anderen Teilungsgebiete, und haben Deutschland als den Feind Nummer eins betrachtet. Die ND-Aktivisten des preußischen Teilungsgebietes mit M. Seyda, W. Korfanty und B. Chrzanowski an der Spitze haben die durch Roman Dmowski vorgeschlagene Lösung der polnischen Frage akzeptiert. Die Perspektive der Vereinigung der polnischen Gebiete und der Anerkennung ihrer Autonomierechte im Rahmen Russlands erschien reizvoll. Sie spendete Hoffnung auf eine größere Befriedigung der nationalen Bestrebungen als unter der preußischen Teilungsherrschaft, und auf eine stärkere Entwicklung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Initiativen. Das bedeutete auch eine Überwindung der Gefahr der Realisierung der preußischen Gesetze: des Enteignungsgesetzes und des Gesetzes über die Vereine (beide von 1908). Außerdem spürte man in Posen nicht die Konsequenzen der Herrschaft des Kaisers. Seit 1903 haben diese Ansicht auch die Vertreter der bürgerlichen Bewegung, d.h. die sog. „ludowcy” (Vertreter der Bauernbewegung) die um Roman Szymański und „Orędownik” (Zeitschrift „Befürworter”) versammelt waren.

Der Unabhängigkeitsgedanke trat manchmal etwas zaghaft im Denken der Konservativen im preußischen Teilungsgebiet auf. Er stellte keine Leitidee in ihren Ansichten dar, und überschritt nicht die Grenze der von ihnen geschätzten gemäßigten Haltung. Bis zur siebten Dekade des XIX. Jh. befanden sich die Konservativen gleichsam unter einem patriotisch-romantischen Druck der öffentlichen Meinung und fürchteten eine „nationale Aufruhr“, d.h. eine Revolution. Ihre Annahme der universellen katholischen Werte kam in der Kritik und in der Ablehnung neuer, vor allem aller radikaler Projekte einer Organisation des gesellschaftlichen Lebens zum Vorschein. Die Konservativen Posener der zweiten Hälfte des XIX. Jh. lehnten das Programm eines Unabhängigkeitskampfes nicht deshalb ab, weil sie sich kein freies Polen wünschten – dafür gibt es keine Anhaltspunkte – sondern weil sie keine Möglichkeit sahen, dieses Ziel in absehbarer Zeit zu verwirklichen. Sie hielten sich für die Verteidiger der nationalen Tradition. Sie schätzten die Stärke des deutschen Staates und seine Attraktivität in kultureller Hinsicht, ohne dabei die stattfindenden politischen Veränderungen in Europa und das Aufkommen starker antideutscher Tendenzen, die für die polnische Sache von Bedeutung sein könnten, zu bemerken. Der Umfang der Unabhängigkeitsvorschläge der Konservativen aus der Provinz Posen war nicht groß. Sie appellierten, das im Deutschen Reich in Bezug auf Polen geltende Recht zu befolgen und verlangten zaghaft nach der Autonomie der Provinz Posen. Nach 1912 kam es zu einer teilweisen Annäherung der Konservativen und der nationalen Demokraten. Angesichts der Gefahr seitens des eingeführten Enteignungsgesetzes wurde ein gemeinsamer Nationaler Rat (Rada Narodowa) (1913) unter dem Vorsitz von Ludwik Mycielski gegründet. Als Hauptrichtungen seiner provisorischen Tätigkeit wurden die nationale Erziehung der Jugend, die Bildungsarbeit in den Grenzgebieten der Provinz Posen und unter den Erwerbsemigranten festgelegt.

Die Tätigkeit der PPS (Polnischen Sozialistischen Partei) des preußischen Teilungsgebietes fand unter sehr erschwerten Bedingungen statt. Bis 1910 arbeitete sie mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zusammen, vertrat das Programm der Autonomie für die Gebiete der preußischen Teilungszone. Der zunehmende Widerwille der SPD gegenüber PPS des preußischen Teilungsgebietes resultierte daraus, dass die letztere immer radikalere nationale Forderungen stellte, bis hin zu einer eindeutigen Unabhängigkeitsforderung. Die polnische sozialistische Bewegung fand unter den Auswanderern in Deutschland und im Teilungsgebiet selbst keinen großen Anklang, und war kaum wahrnehmbar, u.a. in Gniezno und in Posen.